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Lernstörungen verstehen und begleiten

Kinder mit Lernstörungen (Lese-Rechtschreibstörung, Rechenstörung) erleben in der Schule täglich, dass es ihnen nicht gelingt, mit den Anforderungen Schritt zu halten. Leistungsrückstände und Misserfolgserlebnisse sind die Folge dieser langanhaltenden Beeinträchtigungen. In der Forschung zu möglichen Ursachen haben sich insbesondere Arbeitsgedächtnisdefizite als bedeutsam herausgestellt. Daher sollte eine wirksame Unterstützung dieser Kinder die kognitiven Schwierigkeiten ebenso berücksichtigen, wie die psychische Bewältigung der Lernstörung.

In ihrem Vortrag zum Thema gab unsere Referentin Prof. Dr. Claudia Mähler von der Universität Hildesheim Fach- und Lehrkräften einen Einblick in aktuelle Forschungsergebnisse sowie Tipps und Hilfestellungen für den Umgang mit Lernstörungen im Schulalltag.

Lernstörungen verstehen

Eine Lernstörung ist eine Entwicklungsstörung, die umgangssprachlich auch als Lernschwäche bezeichnet wird. Betroffene Kinder haben bei hinreichender Intelligenz im Vergleich mit Gleichaltrigen Defizite beim Schreiben, Lesen oder Rechnen. Für die Diagnostik gelten die Kriterien nach ICD10 F81.

Nach der Schulorganisatorischen Definition liegt eine Lernschwäche vor, wenn folgende Punkte zutreffen:

  • 2 bis 3 Jahre Leistungsrückstand
  • Schwierigkeiten in mehreren Fächern gleichzeitig
  • Andauernde Mindestleistung (trotz Förderunterricht)
  • Kognitive, sprachliche und soziale Entwicklungsverzögerungen (nicht auf Sinnesschädigung zurückzuführen)
  • Defiziten in der allgemeinen Intelligenz
  • Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf

Frau Prof. Dr. Mähler verdeutlichte anhand des folgenden Diagramms, welche Lernstörungen aktuell am häufigsten bei Kindern in Deutschland auftreten:

Daraufhin ging sie auf die Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen ein und stellte kognitive und motivational-volitionale Kriterien vor. Sie berichtete über Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der Entwicklungsverläufe von Kindern bezogen auf deren kognitiver Kompetenzen wie

  • Intelligenz (verbal und non-verbal)
  • Sprache (Wortschatz, Grammatik)
  • Arbeitsgedächtnis (verbal und visuell)
  • Konzentrations- und Verarbeitungsgeschwindigkeit
  • Kognitive Flexibilität

Das Arbeitsgedächtnis stellte sich dabei als besonders wichtiger Faktor für die Vorhersage von Schulleistungen und Lernschwierigkeiten heraus.

Verschiedene Lernstörungen hängen mit spezifischen und voneinander abgrenzbaren Arbeitsgedächtnisproblemen zusammen.

Wie helfen bei Lernstörungen?

Ist das Arbeitsgedächtnis trainierbar?

Über ein spezielles computergestütztes Trainingsprogramm (AGENT 8-1-0) untersuchte die Universität Hildesheim die Frage, ob das Arbeitsgedächtnis trainiert werden kann. Es stellte sich heraus, dass dies nicht oder nur schwer möglich ist. Langfristige Effekte blieben komplett aus.

Interventionsmöglichkeiten

Da die Trainierbarkeit des Arbeitsgedächtnisses umstritten ist, rückt Prof. Dr. Mähler alternative Maßnahmen in den Vordergrund:

  • Das Training der exekutiven Funktionen und der Selbstregulation
  • Training von Gedächtnisstrategien und Metagedächtnis
  • Training mit schulnahen Materialien
  • Entlastung des Arbeitsgedächtnisses durch klare Strukturen und überschaubare Informationen

Allgemein stellt sie fest, dass Lernstörungen im Förderunterricht unterstütz und durch außerschulische Lerntherapie behandelt werden sollten. In diesem Zusammenhang betont sie außerdem die Notwendigkeit der Unterstützung bei der psychischen Bewältigung der Lernstörung.

Psychosoziale Belastungen durch Lernstörung und wie Lehrkräfte helfen können

Kinder mit Lernstörungen unterliegen einer hohen Anzahl von psychosozialen Belastungen und komorbiden Auffälligkeiten. Sie berichten ein erhöhtes Ausmaß an Gewalterfahrung und
Schwierigkeiten in der sozialen Beziehungsgestaltung zu anderen Kindern, werden häufiger durch Mitschüler*innen viktimisiert und sind zum Ende der Grundschulzeit bei den Klassenkammeraden
weniger beliebt. Dadurch haben betroffene Kinder vermehrt Selbstwertprobleme, ein niedriges Selbstkonzept und eine verminderte Anstrengungsbereitschaft.

Prof. Dr. Mähler stellt als Interventionsmöglichkeit für Lehrkräfte die Psychoedukation nach Bäuml & Pitschel-Walz vor:

„Unter Psychoedukation werden systematische didaktisch-psychotherapeutische Interventionen zusammengefasst, um die Patienten und ihre Angehörigen über die Hintergründe der Erkrankung und die erforderlichen Behandlungsmaßnahmen zu informieren, das Krankheitsverständnis und den selbstverantwortlichen Umgang mit der Krankheit zu fördern und sie bei der Krankheitsbewältigung zu unterstützen.”
(Bäuml & Pitschel-Walz , 2016)

Sie verdeutlicht anhand der Ergebnisse einer Untersuchung zum Thema von Griepenburg, Schuchardt, Lautenschläger & Mähler (2021), dass sich das Wohlbefinden und die Zufriedenheit betroffener Kinder durch die gezielte Aufklärung über Lernstörungen im Unterricht erheblich verbesserte: Psychoedukation kann bei Kindern und Eltern die Bewältigung der Schwierigkeiten erleichtern, ist auch im schulischen Kontext möglich und für die Klassengemeinschaft sinnvoll. Sie betont, dass die Aufklärung von Klassenkameraden und die Toleranz für Heterogenität im Leistungsspektrum gerade im inklusiven Kontext Platz finden sollte.

Fazit

Eine wirksame Unterstützung für Kinder mit Lernstörung sollte die kognitiven Schwierigkeiten ebenso berücksichtigen, wie die psychische Bewältigung der Lernstörung. Aufklärung durch Psychoedukation ist dabei neben der Emotionsregulation das wichtigste Hilfsmittel.

Über die Referentin

Prof. Dr. Claudia Mähler ist Professorin für Pädagogische Psychologie und Diagnostik an der Universität Hildesheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die kognitive Entwicklung von Kindern im Vor- und Grundschulalter, der Umgang mit Heterogenität in der Entwicklung sowie Prävention und Intervention bei Lernschwierigkeiten. Sie leitet die Hochschulambulanz KiM – Kind im Mittelpunkt an der Universität Hildesheim.

Prof. Dr. Claudia Mähler
Prof. Dr. Claudia Mähler

Quellen

Vortrag von Prof. Dr. Claudia Mähler "Lernstörungen verstehen und begleiten" für die PTE am 17.03.2023

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